Fast jeden Tag höre ich Radio. Bei einer vor zwei Jahren noch unerlaubten Zusammenkunft hatte ein Freund den Sender eingeschaltet, der bis in die Morgenstunden für gute Stimmung sorgte. Die Musik ist sehr vielfältig und fast jeder Stil ist vertreten, außer hartem Rock oder Techno. Die jüngsten Schlager, die sich dann und wann ins Programm mischen, sind aus den frühen neunziger Jahren. Der Sender bietet keine Reportagen, Gespräche, Stauberichte oder Nachrichten; bloß Musik. Es gibt niemals Werbung. Das Radio funkt über das Internet, aber zum Hören muss man sich nicht registrieren. Das Einzige, was zu tun bleibt, ist den Abspielknopf zu drücken und zuzuhören.
Das Radio macht mir gute Laune; beim Aufstehen macht es mich munter, bei der Arbeit wippe ich gelegentlich auf dem Bürostuhl und am Abend vor dem Ausgehen schmeichelt es mir die Hüfen. Wenn ich unentschlossenen bin, schlägt es mir eine Stimmung vor, die ich fast immer dankbar annehme – nur selten ist die Musik nicht mein Geschmack.
Das Radio ist gemacht von mir unbekannten Leuten aus einem Dorf in den Savoyer Alpen. Immer wieder denke ich über ihre Arbeit nach. Sie wollen nicht meine Aufmerksamkeit, denn die Musik ist nie fordernd – aber weit entfernt von belanglos! –, sondern stimmungsvoll; sie wollen nicht meine Daten, denn ich höre seit Jahren anonym (man versuche heutzutage mal, anonym zu bleiben); und schon gar nicht wollen sie mein Geld. Diese Radiomacher erwarten nichts! Stattdessen bieten sie mir etwas an; laden mich ein, diese oder jene Laune zu probieren, in Vertrautem zu schwelgen oder von mir Unbekannten überrascht zu werden. Das ist bekanntlich eine Freude, plötzlich innezuhalten, weil ein Lied mich rührt, das ist köstlich und spontan.
Tatsächlich gefällt mir die Vorstellung, dass in der Welt, durch die ich navigiere, wo sich jede Meinung als bedeutend aufdrängt, sich jede Nachricht wichtig nimmt und jedes Plakat, Produkt, jeder Bildschirm meint, meine Aufmerksamkeit verdient zu haben – dass in diesem Alltag ein Haufen Leute in einer verschneiten Hütte sitzt und Musik in die ganze Welt sendet, um Stimmung zu machen. Danke für die Gabe, Radio Meuh!