Rixdorf war eine eigenständige Stadt mit langer Geschichte, bevor sie 1920 Bezirk von Groß-Berlin wurde. Bei einem Spaziergang zwischen historischen und zeitgenössischen Kuriositäten entdecken wir eine Dorfkirche aus dem Mittelalter, eine römische Therme für Großstadthygiene, eine gotische Brauerei, die heute als Kunstzentrum dient, sowie einen überaus gelungenen Neubau für eine Kulturinitiative. Abgesehen von der reichhaltigen Geschichte finden wir in Neukölln architektonische Paradebeispiele für die Ambitionen einer sich ständig wandelnden Stadt.
Der Richardplatz ist das Zentrum des alten Rixdorf und bezeugt seinen Ursprung mit der Bethlehemskirche, aus dem 14. Jahrhundert, die somit zu den ältesten Gemäuern Berlins gehört. Der von Tempelrittern gegründete Ort, wurde im frühen 18. Jahrhundert auf Geheiß des preußischen Königs Exil für böhmische Glaubensflüchtlinge. Außergewöhnlich gut erhaltene Straßenzüge und Bauten ermöglichen uns eine Zeitreise nach Böhmisch-Rixdorf, einem bescheidenen Dorf des Preußischen Barock um ein mittelalterliches Zentrum.
Als sich besagte Ansiedlung am Ende des 19. Jahrhunderts zum bevölkerungsreichsten Dorf Preußens entwickelte, bekam Neukölln in wenigen Jahren unter der Feder von Baudirektor Reinhold Kiehl ein imposantes städtisches Antlitz. Nach Stationen als Baulehrer und -inspektor von Charlottenburg, wurde Kiehl 1905 Rixdorfs erster Stadtbaurat. Bis zu seinem Herzinfarkt in der Zeichenstube 1912 prägte er das heutige Neukölln u.a. mit einem Rathaus, einer Bank, einer Oper, einer Trinkhalle, mehreren Schulen und einem Krankenhaus.
Neben der Einbettung dieser öffentlichen Bauten in die bestehende Umgebung interessiert uns besonders Kiehls Entwurf für ein Stadtbad (1914), dessen auf das Wesentliche reduzierte Fassade Becken wie eine Bibliothek verbarg. Das Tonnengewölbe der großen Schwimmhalle ist zwar als Eisenkonstruktion errichtet, im Innern finden wir jedoch Formen und Zierrat einer ionischen Basilika. Neben der „Volkserbauung“ durch Bildung und Bewegung erkennen wir Hygiene als eines der drängendsten großstädtischen Probleme der Zeit. Damit können wir die Wechselwirkung zwischen Zweck, Konstruktion und Baustil besser verstehen.
Während wir durch die Neuköllner Blockrandbebauung streifen, erhebt sich vor uns ein blutroter Turm, an dem sich zwei gewaltige, mit vertikalen Fensterbändern gegliederte Hallen anschließen. Wir stehen vor dem KINDL - Zentrum für zeitgenössische Kunst, das dereinst für die Produktion des gleichnamigen Bieres erbaut worden war: 1930 eröffnete die nach Plänen der Architekten Hans Claus und Richard Schepke auch „Palast der Bierkultur“ genannte Brauerei mit den damals größten Sudgefäßen Europas. Neben dem reizvollen Interieur und der gelungenen Modernisierung des Zürcher Büros grisard’architektur zu einem Ausstellungshaus interessiert uns vor allem die Verwendung der farbintensiven Klinker für Formen des sogenannten Backsteinexpressionismus. Was hat uns das zu bedeuten? Wir versuchen anhand der gestalterischen Versatzstücke eine Beziehung zur Gotik, zur Sachlichkeit und weiteren Strömungen des Neuen Bauens herzustellen sowie der Industrieästhetik im Wandel der Zeit beizukommen.
Auf der geschäftigen und baulich disparaten Hermannstraße findet sich in der ehemaligen Einflugschneise des Tempelhofer Flughafens seit 2020 das Spore Haus der gleichnamigen Kultur- und Umweltinitiative. Allein beim äußeren Anblick können wir anhand der Baumaterialien – rotpigmentierter Sichtbeton, wiederverwendete Ziegel, große Glasscheiben, feine Stahlrahmen – sowie der baulichen Einbindung bspw. einer Friedhofsmauer und der Lichtmasten einen der gelungensten Neubauten der Stadt ausmachen. Im Inneren beschäftigen uns die netzartig gespannten Unterzüge sowie ein differenziertes Raumgefüge, das seine ansprechende Wirkung aus dem Wechselspiel von Licht und Schatten auf dem fein geschalten Sichtbeton zieht. Brüstungen und Handläufe aus unbeschichtetem Stahl komplettieren die vollendete Rohbauästhetik, die uns auf einen charakteristischen modus operandi der Berliner Architektur verweist.
Wir beschließen unseren Rundgang im pittoresken Körnerpark, der 1916 in einer Kiesgrube angelegt wurde. Mit der auf Sichtbeziehungen und Symmetrie bedachten Gartengestaltung und einer terrassierten Orangerie – ebenfalls entworfen von Stilpluralist Reinhold Kiehl – finden wir ein barockes Kleinod in den Schluchten von Neukölln. Schönheit kommt bisweilen unverhofft.