Ortserkundung Weißensee

Bekannt ist Weißensee vor allem als Standort einer renommierten Kunstschule. Das Viertel im Norden Berlins hat aber noch viel mehr zu bieten: einen Gartenpavillon nach einem Entwurf des letzten Bauhausdirektors, einen Kilometer Modernes Wohnen, falsche Holländer, versteckte Seen und einen Hochschulbau des Sozialismus. Ein Rundgang verleitet uns zu Beobachtungen über Stadtgeschichte, Urbanismus des beginnenden 20. Jahrhundert mit Reformbewegungen wie dem Neuem Bauen und dem Bruch der Moderne sowie die Entwicklung der Architektur im kalten Krieg.

1932 entwirft Ludwig Mies van der Rohe das Landhaus Lemke. Nach der ursprünglichen Nutzung als Wohnsitz des Ehepaars Lemke wurde das Gebäude zunächst als Garage für die Rote Armee, zu Zeiten der DDR als Hausmeisterwohnung und seit den 1990er Jahren als Mies van der Rohe Haus für Ausstellungen genutzt. An dem Kleinod, das kurz vor der Auflösung des Bauhauses und van der Rohes Emigration entstanden ist, können wir dank einer denkmalgerechten Sanierung auch heute noch die Meisterschaft des Architekten ablesen, aus einem freien, aber sinnfällig organisierten Grundriss einen kohärenten Baukörper zu schaffen, der einerseits durch Materialien und Kubatur einen Kontrapunkt zur Umgebung darstellt, diese aber durch entschiedene Gestaltungsmittel wie Hecken und Terrassen wieder an sich bindet. Außerdem erhellt dieses Projekt mit den großen Fensterfronten unser Verständnis für die Spannung zwischen dargestellter, tatsächlicher Konstruktion sowie der verwendeten Baustoffe.

Unter dem Neuen Bauen werden Bestrebungen des beginnenden 20. Jahrhunderts, Architektur zu reformieren, zusammengefasst. Der in Berlin überaus tätige und einflussreiche Architekt Bruno Taut plante als leitender Architekt der Gemeinnützigen Heimstätten-, Spar und Baugesellschaft Gehag zwischen 1928 und ’30 eine neue Siedlung entlang der Buschallee. An der die Straße über einen Kilometer säumenden Bebauung können wir den Einsatz von architektonischen Motiven wie Risalite, Setzung der Fenster zur Rhythmisierung der Fassade und nicht zuletzt den gezielten wie wirkungsvollen Einsatz von Farbe in der Architektur studieren, für den Taut bekannt ist. Besonders präsent ist die Farbgestaltung in einem weiteren Werk des Architekten; das nahegelegene Papageienhaus in der Trierer Straße. Die Entwürfe können uns lehren, wie Monotonie im modernen Bauen abgewendet werden kann, ohne auf klassische Ordnungen zurückzugreifen.

Versuche, die Architektur vor dem Neuen Bauen zu reformieren, können wir im dem Munizipalviertel von Carl-James Bühring ablesen. Die ab 1907 errichtete Gemeindesiedlung stellt mit großzügig um einen Pfuhl komponierten Wohngebäuden, einer Bäckerei, Schule, Bibliothek, einer Stadthalle und einem Verwaltungsgebäude nicht nur stadtplanerisch, sondern mit reichhaltigen Motiven und Ornamenten aus dem bildbestimmenden Baustoff Ziegel auch architektonisch drängenden Gestaltungswillen dar, dem geschichtliche wie künstlerische Erkenntnis abgewinnen können. Das angrenzende Holländer-Viertel, ab 1929 von Josef Tiedemann gebaut, bereichert mit Motiven aus der Niederländischen Renaissance und dem Barock unser Verständnis vom Ringen um den „Stil“, das die Architektur seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beherrscht hatte.

Die 1946 gegründete, in einer ehemaligen Schokoladenfabrik situierte und in den 1950er Jahren baulich erweitere Kunsthochschule besticht durch eine moderate aber anspruchsvolle Version nachklassischer Architektur. Besonders augenfällig am Entwurf von Selman Selmanagić finden wir Ziermotive wie Farbgestaltung, grafischen Fries und figurative Terracotta-Reliefs, die uns allesamt dazu verleiten, dem Formalismusstreit nachzuspüren, der zur Entstehungszeit des Baus in der DDR zum Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit und ihrer Verwendung für die sozialistische Sache geführt wurde. Der Antagonismus von Abbildung und Abstraktion wird uns von dort an in der Nachkriegsarchitektur dies- wie jenseits der Mauer immer wieder begegnen.

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